17 Jahre Skoliose und das Danach
Verfasst: Mi, 17.06.2020 - 18:21
Liebe Forum-Mitglieder, ich habe meine Erfahrung mit dieser tückischen Krankheit auf ganze sieben Seiten gebracht, hoffe aber, dass wer auch immer die Zeit hat, sich reinzulesen, davon etwas mitnehmen kann. Bei Fragen freue ich mich, Euch zu helfen!
Viele Grüße
Steffi
Sommer 2003, Ostseebad Heringsdorf. Ich bin 13 Jahre alt und mit meiner Familie im Sommerurlaub. Da ich mich als frischer Teenager sehr ungern unangezogen vor meinen Eltern zeige, fällt meinen Eltern erst jetzt, da ich im Bikini vor ihnen auf dem Fußteil des Strandkorbes sitze und mich über ein Buch nach vorne gebeugt halte eine merkwürdige Veränderung an meinem Rücken auf. Ein Buckel auf der unteren linken Seite.
Berlin, Orthopädie. Zurück in meiner Heimatstadt vereinbaren meine Eltern für mich einen Termin beim Orthopäden, es soll nicht der letzte bleiben. Gemeinsam mit meiner Mama durchlaufe ich zum ersten Mal das gesamte Prozedere: ausziehen vor dem Arzt, zur Seite und nach vorne beugen, abmessen, wiegen, nach Schmerzen fragen. Bis dato habe ich keine merklichen Rückenschmerzen und falls ja, kann ich mich nicht erinnern, habe sie wahrscheinlich auf die Pubertät geschoben. Mit 13 habe ich gerade einen ordentlichen Wachstumsschub auf meine seitdem anhaltenden 1,76 m hinter mir. Ich bin sehr schlank, eher schlaksig. Ich selber habe die Veränderung nicht wahrgenommen, stand ich auch nie besonders aufmerksam vor dem Spiegel, da ich eher generell unsicher und unzufrieden mit mir war - ich denke, das ist für das Alter typisch.
Das erste Röntgenbild bringt die für mich bis dato absolut unbekannte und erschreckende Diagnose: Skoliose mit einer ca. 34° großen, linkskonvexen Krümmung im Lendenwirbelbereich. Ab da brechen Termine zur vorbeugenden Physiotherapie und zur Erstellung eines Stützkorsetts über mich hinein.
Da meine kleine Schwester, 3 Jahr jünger, ebenfalls eine, glücklicherweise deutlich geringere und bis heute auch keine Probleme machende, Verkrümmung hat, wird sie mit mir teils zeitgleich in die Physiotherapie gesteckt, zur Vorsorge. Ich bin froh darum, da das Ganze sehr ungewohnt ist und die Rolle der großen Schwester gibt mir etwas Selbstvertrauen. Ich habe nun also 2 mal die Woche nach der Schule Physiotherapie. Da ich ansonsten sehr sportfaul bin, macht das für mich einen großen Unterschied aus. Weil die Physiotherapeutin sehr nett ist, ist es trotz der sehr anstrengenden Übungen sehr erträglich.
Das für mich angefertigte orthopädische Stützkorsett, viele werden es kennen, ist für mich das Sinnbild eines Foltergeräts. Da meine Verkrümmung recht lang ist und meine Schultern schiefstehen lässt, reicht es von der Hüfte bis hin über die Schulter. Es zu tragen verursacht bei mir Hitzewallungen, das Gefühl eingesperrt zu sein und schreckliche Schmerzen. Da man es mehr als deutlich durch jede erdenkliche Kleidung durchsieht (in den frühen 2000ern trug man leider keine oversized Shirts, eventuell wären diese meine Rettung gewesen), und ich in meinen jungen Teenagerjahren gut ankommen und mein Leben genießen wollte, trug ich es mehr als selten. Ich glaube, dass es bei einigen wirklich hilft, bin aber überzeugt, dass es bei mir schon zu spät gewesen wäre.
Ich erinnere mich noch an eine Zugfahrt in den Urlaub im folgenden Jahr, während der meine Eltern ihrer weinenden Tochter das Korsett auf der engen Zugtoilette entledigen durften.
Ich erzähle es ein paar Freundinnen aus der Schule, die sehr viel Verständnis und Neugier zeigen, ansonsten halte ich mich aber damit sehr zurück. Da ich sehr groß bin, scheint es niemandem aufzufallen.
Karlsfeld/Dachau, nähe München, rund 10 Jahre später. Nach meinem Umzug nach Bayern habe ich erstmal niemand von meinen neuen Freunden viel über meinen Rücken erzählt, mit einigen wenigen eng vertrauten Ausnahmen. Man möchte als Teenager ja, wenn man eh schon die Neue ist, sich nicht noch mit “so etwas” angreifbar machen. Teenager können gemein sein. Es scheint tatsächlich niemand zu sehen, einmal fragt eine Bekannte am See nach, ob mir mein Rücken wehtut, weil sie die Krümmung sieht, sonst nichts. Ich selber sehe es hingehen mehr als genug. Mein Rücken schmerzt bei längerer sportlicher Bewegung, beim Wandern, beim Snowboarden, beim Frieren, da sich dabei die Muskeln anspannen. Ich habe in den letzten Jahren sehr oft verspannte Schultern und nun auch noch eine Migräne mit Aura entwickelt, die u.a. von den Verspannungen herrühren kann. Ich verzichte auf zu enge Kleidung, da ich meinen “Knick” in der Seite nicht ästhetisch finde, damit kann ich es gut kaschieren. Ich laufe leicht schief, das fällt ein paar Freunden auf, die sich aber, nachdem ich mich erklärt habe, sehr unterstützend zeigen.
Meine Skoliose wird 2-jährlich geröntgt. Ich habe ab sofort immer mal wieder Physiotherapie, wenn es wieder zu sehr verspannt und schmerzt. Außerdem habe ich mich sporadisch in Fitnessstudios angemeldet und beginne, ab 2011 tatsächlich bis heute regelmäßig Pilates, Yoga und weitere Bauch- und Rückenmuskulatur stärkende Sportarten durchzuziehen, auch wenn ich nicht die Disziplin meiner kleiner Schwester besitze, die fleißig fast täglich Übungen macht. Ich schwimme immer wieder, lerne Skifahren und gehe später auch Bouldern, meine Einschränkungen halten sich also in Grenzen, ich würde aber sagen, dass ich mich oft schwerer tue als andere und natürlich den Seitenunterschied bemerke.
Mein Allgemein-Arzt rät mir von hohen Schuhen ab und erklärt mir, wie ich am besten in Babyposition schlafen soll - nicht sonderlich hilfreich. Mein Orthopäde in Dachau hingegen, ist sehr gut auf diesem Gebiet und erklärt mir, dass er Verbindungen zur Schön-Klinik in Vogtareuth hat und gern dort einen Untersuchungstermin vereinbart. Dass aber eine OP unter 60° Verkrümmung ohne weitergehende Einschränkungen, und die habe ich nicht, nicht in Frage kommt. Meine Verkrümmung beträgt nun rund 45°. Deshalb behalte ich mir die OP im Hinterkopf, wünsche sie mir aber im Prinzip schon seitdem ich 13 bin, meine Devise lautet “viel hilft viel”. Nichtsdestotrotz freunde ich mich mit dem Gedanken an, abzuwarten bis sich die Skoliose dann rechnerisch mit 40 so sehr verschlechtert hat, dass ich eine OP brauche. Bis dahin sollte ich Kinder haben, die sich bereits selber versorgen können
2018. Seit ein paar Monaten tut meine rechte Hüfte immer wieder weh, sie sticht. Die Physiotherapeuten versuchen alles, denken es ist das ISG, mein Ortophäde spritzt mir Cortison, aber nichts hilft, auch die Osteopathin weiß Ansätze aber keine nachhaltige Hilfe. Mittlerweile ist es so, dass ich nach Fußballspielen oder Konzerten, also nach langem Stehen, mächtige Schmerzen im Lendenbereich habe. Wir besuchen eine Trampolinhalle und einmal sind wir Schlittschuhlaufen - danach muss ich mich am Folgetag auf dem 10-minütigen Fußweg zur Arbeit jeweils mehrfach zwischendurch hinsetzen. Nachdem ich nach München umgezogen bin, suche ich einen neuen Orthopäden auf, dieser lässt mich neu röntgen. Die Diagnose scheint für mich unglaublich: 63° Verkrümmung. Das sind fast 15 ° mehr als vor einem Jahr. Scheinbar drückt sich durch die Krümmung eine Bandscheibe leicht raus, was die Hüftschmerzen erklärt. Ich bin perplex, versuche mit meinem Freund selbst den Cobb Winkel auszurechnen, komme auf 53° und hole mir bei der Schönklinik in München einen Termin zum Gegenröntgen. Es bringt dasselbe Ergebnis wie beim ersten Arzt, sogar etwas mehr - ca. 66°.
Ich weiß noch, wie ich aus dem ersten Gespräch von dort komme, und meiner Schwester eine Whatsapp schreibe, dass ich wahrscheinlich eine OP brauche. Ihre Antwort reflektiert perfekt auch mein rationales Gefühl gegenüber dieser Situation: “Klar, das machst Du.”.
In den folgenden Wochen bin ich nochmal zum Röntgen und dort und darf meine Mama und meinen Freund mit zum Vorgespräch nehmen, auch mit 29 braucht man schließlich emotionale Unterstützung.
Wir werden all unsere Fragen los: Wie verläuft die OP, was muss ich vorher beachten, was kommt danach auf mich zu, wie sieht es danach mit Sport aus, mit Tragen von schweren Sachen, mit dem Sexualleben, mit dem Kinderkriegen, mit weiteren ärztlichen Eingriffen, mit dem Fliegen, … Interessant für alle Mädchen und jungen Frauen: Mein Plan mit 40 wäre niemals aufgegangen: Wenn man schwanger wird, weicht das Gewebe rund um das Becken auf, um dem Kind Platz zu geben. Dadurch verstärken sich Skoliosen in der Regel. Eine problemlose Schwangerschaft und Geburt sind dann selten.
Ich richte mich darauf ein, dass mein Termin frühestens in ca. 6-8 Wochen sein wird, da das die normale Wartezeit ist. Da ich für das Jahr bereits zwei Reisen und mehrere Hochzeitsbesuche eingeplant habe, ginge es für mich naiverweise entweder sofort oder im Winter. Während eines Kundentermins kommt ein Telefonat aus der Klinik: Ende März 2019 ist ein Termin frei geworden, ob ich diesen haben möchte. Wir schreiben den 19. Februar, ich stehe im Gang neben dem Konferenzraum des Kunden und habe Tränen in den Augen. Ich sage direkt zu.
Ab da trinke ich bis zum OP-Termin keinen Alkohol mehr, um den Körper zu schonen und mache aber alles nochmal, was ich liebe. Wir feiern Geburtstage im Freundes- und Familienkreis, ich gehe mit meinen Freundinnen zum Fasching und am Tag vor dem Krankenhaus-Checkin gehe ich noch zum Heimspiel des TSV 1860 München und verabschiede mich von meinen Freunden.
Was ich unbedingt erwähnen möchte: Ich habe mir sehr lange Gedanken über eine Patientenverfügung gemacht, da ich das erste Mal in meinem Leben vor einem Krankenhausaufenthalt, vor einer Narkose und einer OP stand und man ja nie weiß. Auch wenn es nachträglich etwas übertrieben erscheint, habe ich sie erstellt und bei den Ärzten abgegeben. Entscheidungen wie lebenserhaltende Maßnahmen und was mit meinen Organen passiert, wollte ich meiner Familie nicht zumuten, daher finde ich die Entscheidung nach wie vor richtig und wichtig.
Am Check-in Tag ist schönes Wetter. Die Nichten meines Freundes haben mir mit ihrer Mama einen großen Schokoladenkuchen gebacken. Mein Freund fährt mich mit zwei großen Taschen voller Jogginghosen und gemütlichen Shirts in die Klinik, 14 Tage Aufenthalt sind geplant. Ich komme in ein Zweibettzimmer mit einer netten Frau, die bereits eine Bandscheiben-OP hinter sich hat. Ich durchwandere nochmal die Anästhesie-Besprechung inkl. Urinprobe und Blutabnehmen, Patientenbögen, das Röntgen und das MRT, alles steht für den nächsten Tag. Ich gehe noch eine Runde spazieren und gebe meinen Freund als Notfallkontakt an. Vor dem Einschlafen gibt es eine Schlaftablette, um 6 Uhr soll es losgehen.
25. März 2019: Ich werde sanft geweckt und gebeten, mich frisch zu machen und in mein OP-Dress zu werfen. Bevor man mich abholen kommt, schreibe ich nochmal meinen Liebsten und lenke mich mit einer Folge Modern Family auf dem iPad ab. Man gibt mir eine kleine Beruhigungsspritze, das ist normal, und schiebt mich mit dem Bett in den Anästhesie-Raum. Dort bekomme ich eine warme Decke und die Haupt-Spritze und als der nette Anästhesist noch sagt, jetzt würde mir gleich warm, bin ich bereits weg.
Als ich aufwache, sehe ich meine Mama an meinem Bett stehen. Sie hat mir Blumen mitgebracht und ist sehr erleichtert. Meine Schwester und mein Freund kommen hinzu. Ich erzähle, wie es mir bisher ging, nicke aber zwischendurch immer wieder mal halb weg, nach der Narkose bin ich sehr k.o. Die Uhrzeit erscheint mir zu früh. Was ich erfahre, ist, dass meine OP deutlich weniger lang gedauert hat, als gedacht: nur 3 statt fast 6 Stunden. Ständig wird geprüft, ob ich meine Zehen bewegen kann und wie ich mich fühle. Alles in Ordnung, nur meinen Rücken spüre ich nicht.
Das ändert sich schon in der ersten Nacht. Ich bekomme kaum ein Auge zu, da die Schmerzen stark zunehmen. Immer wieder drücke ich den Notfallknopf und rufe die Nachtschwestern mit der Bitte um mehr Schmerzmittel. Ich liege vorsorglich die ersten 3 Nächte auf der Intensivstation und werde rundum versorgt.
Ein paar neue interessante Fakten, die ich dort lerne und die einem vorher niemand sagt:
Die Schwestern sehen auf ihrem Computer, wenn man einen Migräneanfall bekommt.
Wenn man als Frau operiert wird, bekommt man meistens seine Periode, auch wenn sie nicht angestanden wäre.
Wenn man ein paar Tage nicht isst, weil man nichts herunter bekommt, bekommt man einen unfassbar schmerzhaften Blähbauch.
Makeup, BH, Selbstwertgefühl, forget it.
Schmerzmittel machen einen sehr sentimental.
Am Morgen des Tages nach der OP erwischt mich mein OP-Arzt endlich im wachen Zustand. Er sagt, dass die OP wunderbar verlaufen ist, meine Wirbelsäule sehr gut mitgespielt hat und ich nun nahezu 0° Skoliose, als null Skoliose mehr habe. Ich weine vor Freude und Dankbarkeit.
Grundsätzlich ist der Plan, Patienten so schnell es geht aufzusetzen und zum Gehen zu bringen. Das dauert bei mir etwas länger als geplant. Ich habe von der Lagerung während der OP den bisher größten Schultermuskelkater meines Lebens, mein Rücken schmerzt und mein Kreislauf macht nicht mit. Ich habe nebenbei bemerkt auch große Druckstellen an den Beinen. Erst heißt es, ich solle weniger nach Schmerzmitteln fragen, da diese natürlich nicht gesund sind, als ich mich zusammenreiße und die Heldin spiele, werden die Schmerzen unerträglich und ich lerne zum ersten Mal, was es heißt, ein Schmerzgedächtnis zu haben. Ich bin die meiste Zeit allein im Zimmer, aber ständig von Arztvisiten und Pflegern umgeben. Pflasterwechsel sind der Horror, da ich mich auf die Seite drehen muss und ich habe einen Blasenkatheter, der sehr anstrengend ist. Zudem muss ich bei jeder Bewegung darauf achten, mir weder meinen Wundkatheter, noch meinen Pulsmesser am Finger oder meine Sauerstoffschläuche und vor allem meinen Zentralvenenkatheter, den ich am Hals angenäht bekommen habe, rauszureißen.
Am dritten Tag nach der OP setze ich mich vormittags das erste Mal auf - bis mir schwarz vor Augen wird, aber mein Kampfgeist ist wieder da. Am frühen Abend schafft es der junge, große Pfleger mich aus dem Bett hochzuziehen und mich an meinen Rollator zu stellen. Ab da geht es relativ zügig und vom Weg durch das Zimmer, schaffe ich einen Spaziergang zum Gangfenster.
Am 4. Tag verlegt man mich auf die normale Station, wieder in mein Zweibettzimmer. Mein Blasenkatheter ist raus, das heißt ab sofort muss ich mich zusammenreißen und mindestens für die Toilette aufstehen. Ich bekomme das berühmte Opium oder Morphium (nicht mehr sicher, ich schreibe weiter Opium) zum Spritzen auf Knopfdruck.
Am 5. oder 6. Tag darf ich, nachdem der Wundkatheter entfernt wurde, endlich duschen gehen, im Sitzen, mit Hilfe der Schwester. Aber es ist das beste Mal Duschen meines Lebens.
Tagsüber sind die Schmerzen erträglich und ich habe nette, wechselnde Zimmernachbarinnen und täglichen Besuch von meinen Eltern, meinem Freund und meiner Schwester, die es schaffen, sich neben der Arbeit abwechselnd auf den doch einstündigen Umweg zu machen, um mir Gesellschaft zu leisten, während ich den Tränen nahe im Bett liege, mit mir zusammen einzunicken, mit mir die ersten Spaziergänge über den Gang zu machen. Ich bin stolz, weil sie sich freuen, wie es mir besser geht.
Vor allem in den ersten Nächten auf dem normalen Zimmer habe ich nach wie vor sehr starke Schmerzen in der Nacht, habe Albträume, wache einmal sogar auf einem durchgebluteten Laken auf und nutze eher zu viel Opium. Die Spritze hat einen Zähler: an einem Tag nehme ich 53 Dosen. Dieser Fakt und der Moment, als ich mich nach dem Nachtisch erneut auf meine frische Bettwäsche übergeben muss, öffnen mir die Augen: Das Opium muss weg. Lieber wandere ich ab sofort nächtlich bis zu 5x den Gang auf und ab - in guter Gesellschaft anderer Patienten - denn Gehen lockert die Rückenmuskulatur.
Auf der Station hat man einen recht gut durchgetakteten Tagesablauf, den ich auch erstmal lange lernen musste: Blutabnehmen, Tabletten nehmen, frisch machen, Frühstück, auf die Arztvisite warten, Duschen, Gespräch mit der Physiotherapie, eventuell spazieren gehen, Mittag, Tabletten, Whatsapp- und Instagram Chats mit Freunden, Shoppingqueen, schlafen, Pfleger kommen um Werte abzunehmen, spazieren, Besuch, Abendessen um 17 Uhr und danach wird der Abend sehr lang. Aber ich habe gute Unterhaltungen mit meinen Zimmerkolleginnen, mein iPad für Netflix und Co und ein gutes Buch. Die Spaziergänge bei schönem Frühlingswetter im Hof der Schön Klinik, die auch an ein Internat und eine Schule für behinderte Kinder angrenzt, und meine Lieblingsmusik bauen mich sehr auf.
Von Tag zu Tag werde ich fitter und schaffe es sogar, bis zum 1860 Trainingsgelände zu spazieren, um die Mannschaft zu sehen und beim Italiener dort mit meinen Eltern zu essen (absolute Empfehlung!). Ich habe große Hoffnungen, bald nach Hause zu können.
Es kommen auf den Rest der Wunde immer weniger Pflaster und ich sehe Teile meiner Narbe. Sie ist noch sehr geschwollen und verkrustet und ich bin noch etwas aufgedunsen und fühle mich einen Meter größer als vorher, da ich auf einmal aufrechter und gerade steher. Meine Venenzugänge sind bald aufgebraucht. Vom vielen Schmerzmittel, Antibiotikum und Blutabnahmen finden die Schwestern kaum noch brauchbare Venen. An einem Tag schwillt meine linke Hand sogar Tennisball-groß an, weil sich Flüssigkeit nicht in der Vene sondern im Gewerbe sammelt. Und noch schlimmer: leider verheilt meine Narbe am Wundpol ganz unten nicht. Sie blutet immer und immer wieder nach. Mal kommt anderthalb Tage kein Tropfen Blut und dann wieder ein ganzer Schwall. Ich bin todtraurig und ungeduldig und habe das erste Mal seit Ewigkeiten Heimweh und bin ein Häuflein Elend.
Am 19. Tag darf ich unter Vorbehalt nach Hause, auch wenn die Wunde noch kritisch beäugt wird. Der Vater meines Freundes ist so lieb und holt mich ab, die erste Nacht schlafe ich bei meinen Eltern, da mein Freund auf Dienstreise ist. Auf dem Weg zur Tür herein, treffe ich per Zufall noch eine sehr gute Freundin. Endlich zuhause! Meine Eltern kümmern sich toll um mich und am nächsten Tag holt mein Freund mich ab und in unsere Wohnung. Ich bekomme Blumen und gutes Essen und bin sehr glücklich.
Der Plan jetzt lautet: Erholen, Bingewatching, Playstation spielen und nach 3-4 Wochen arbeiten gehen. Nicht so mit meinem werten Körper
Ich habe nach wie vor starke Schmerzen im unteren Rücken und nehme täglich Schmerzmittel und Antibiotika. Mir gelingen weitere Spaziergänge und sogar ein Friseurbesuch. Mehrmals die Woche muss ich zum Allgemeinarzt zum Pflasterwechsel und zur Blutabnahme. Letztere ist vor allem wichtig, um die Entzündungswerte zu kontrollieren. Dieses werden tendenziell immer besser. Familienessen gehen schon, Ostern bei meiner Schwester und Besuche und Geschenke von Kolleginnen und Freunden. Aber die Wunde wird nicht besser, es fühlt sich an, als hätte ich ein Lineal im Rücken.
Als mein Freund mir am 25.4. das Pflaster nochmal wechseln möchte, sieht er, dass die Wunde sehr geschwollen ist. Ich bin mit den Nerven am Ende. Am nächsten Morgen fahren wir in die Notaufnahme, zum Glück ist nicht Wochenende, sonst müsste ich länger warten. So geht aber alles recht schnell: Dem Arzt, der mein Pflaster abzieht, rutscht nur ein “oh krass” raus. Alles von vorne: Blutabnehmen, Patientenbögen, Röntgen, MRT, Zimmer beziehen, umziehen, Narkose. Als ich aufwache, liege ich im normalen Aufwachzimmer. Um mich rum sind Familien und viele Pfleger. Ich nicke immer wieder weg, bekomme aber mit, dass alles gut gelaufen ist und der Abszess, der sich unter der Narbe gebildet hat und fast bis zum Knochen reichte, erfolgreich entfernt ist.
Ich habe Glück, das Zimmer am Wochenende für mich allein zu haben. Die Ärzte sagen, Druck verschließt die Wunde, also entscheide ich mich für Game of Thrones Bingewatching - damals kommt die letzte Staffel - und viel rumliegen. Das Wetter ist ohnehin mies und ich hänge am Tropf und am Wundkatheter. Die Wunde verheilt diesmal gut, jetzt habe ich so eine typische Näh-Naht um den unteren Teil meiner Narbe. Die Pfleger und Pflegerinnen sind wie beim ersten Mal wirklich großartig und hilfsbereit und ideenreich und auch meine Ärzte geben sich die größte Mühe, mich aufzumuntern. Trotzdem will ich nach Hause, denn der Geburtstag meines Freundes steht an. Als Sonderausnahme darf ich am Abend des Freitags meine letzte Dosis Antibiotika haben und nach Hause.
Ab diesem Zeitpunkt geht die Heilung viel besser voran und die Schmerzen sind minimal. Ich kläre eine Wiedereingliederungsmaßnahme mit meiner Ärztin ab und kann 3 oder 4 Wochen später wieder erst 4, dann 6 Stunden und bald wieder Vollzeit in die Arbeit zurückkehren.
Ich kann dann sehr schnell auch wieder zum Weinfest, zur ersten Hochzeit, und im Sommer auch relativ problemfrei in den wohlverdienten Urlaub nach Sardinien und schaffe es sogar immer sicherer zu schwimmen.
Am Anfang nach der OP war ich körperlich sehr eingeschränkt: Alle Kleidungsstücke unterhalb der Hüfte, vor allem Socken, waren schon eine Herausforderung, und ohne Schuhanzieher ging nichts. Beine rasieren und Fußnägel lackieren? Fehlanzeige! Dafür habe ich mir Pediküre Termine gegönnt.
Schlafen ging lange nur auf dem Rücken und nicht zu nah an meinem Freund, da jede seiner Bewegungen die Matratze bewegt und bei mir Muskelkrämpfe rechts der Wirbelsäule ausgelöst hat. Das ist so, weil diese Seite vorher stark verkürzt war und sich erst an die neue Lage gewöhnen musste.
Fahrradfahren ging beispielsweise auch lang nicht und in Autos muss ich den Sitz schräger stellen als andere, da ich mir sonst vorkomme, als würde ich beim Sitzen vorne überkippen.
In den Öffentlichen habe ich versucht, möglichst immer so zu stehen, dass ich nicht von hinten angestoßen werde. Statt Handtaschen trug ich nur noch Rucksack. Im Sommer fiel das lässige Daliegen am Badesee oder im Freibad schon mehr als schwer. Für die Narbe habe ich extra immer 50er UV-Schutz drauf gehabt plus Badeanzug, der sie bedeckt, damit sie nicht dunkel wird und sie sonst stets gut eingeschmiert.
Es ist ein bisschen wie bei Kleinkindern: die ersten Schritte, das erste mal Fahrradfahren, das erste mal Schwimmen… Man wird von Woche zu Woche mobiler und mittlerweile das tolle Ergebnis: Die Nachuntersuchungen sahen alle top aus. Ich habe nur selten Schmerzen, was u.a. aber auch vom vielen Sitzen kommt. Sportübungen helfen und die Physiotherapie, die ich bis April hatte. Seit letztem Jahr im Herbst bin ich regelmäßig Schwimmen gegangen, dann kurz zum Pilates. Dann kam Corona und seitdem mache ich täglich 20 Minuten Sport mit einer App, das hilft super und ich werde immer besser, schaffe immer mehr der Übungen und halte länger durch. Nichts krampft mehr und es ist nicht schlimm, wenn jemand meinen Rücken anfässt.
Die Narbe sieht man aber sie ist ein Teil von mir und ich trage sie mit Stolz. Ich freue mich über die vielen neuen Kleider, die ich nun tragen kann, ohne, dass meine schiefe Hüfte oder mein Knick mich stören.
Ich kann stundenlang zu Fuß gehen, ins Fußballstadion gehen und dort über die Balustrade klettern, ich kann längere Radlausflüge machen, und denke bei Bewegungen nicht mehr viel nach. Für mich ist das wie ein neues Leben und ich bin unfassbar dankbar! Ich kann mich glücklich schätzen, in einem privilegierten Land zu leben, dass so ein tolles medizinisches Personal ausbildet und per gesetzlicher Krankenkasse solche Operationen bezahlt. Und, dass ich so einen großen Unterstützungskreis habe. Ich hoffe, mit meiner Erzählung anderen Betroffenen Mut machen zu können. Es ist nicht leicht aber der Kampf lohnt sich! Und Ihr seid stark!
Sommer 2020. Dieses Jahr geht es, wenn wegen dem Virus alles gut geht, wieder an die Ostsee, diesmal wieder mit geradem Rücken und darauf freue ich mich schon lange wie ein kleines Kind!
Viele Grüße
Steffi

Sommer 2003, Ostseebad Heringsdorf. Ich bin 13 Jahre alt und mit meiner Familie im Sommerurlaub. Da ich mich als frischer Teenager sehr ungern unangezogen vor meinen Eltern zeige, fällt meinen Eltern erst jetzt, da ich im Bikini vor ihnen auf dem Fußteil des Strandkorbes sitze und mich über ein Buch nach vorne gebeugt halte eine merkwürdige Veränderung an meinem Rücken auf. Ein Buckel auf der unteren linken Seite.
Berlin, Orthopädie. Zurück in meiner Heimatstadt vereinbaren meine Eltern für mich einen Termin beim Orthopäden, es soll nicht der letzte bleiben. Gemeinsam mit meiner Mama durchlaufe ich zum ersten Mal das gesamte Prozedere: ausziehen vor dem Arzt, zur Seite und nach vorne beugen, abmessen, wiegen, nach Schmerzen fragen. Bis dato habe ich keine merklichen Rückenschmerzen und falls ja, kann ich mich nicht erinnern, habe sie wahrscheinlich auf die Pubertät geschoben. Mit 13 habe ich gerade einen ordentlichen Wachstumsschub auf meine seitdem anhaltenden 1,76 m hinter mir. Ich bin sehr schlank, eher schlaksig. Ich selber habe die Veränderung nicht wahrgenommen, stand ich auch nie besonders aufmerksam vor dem Spiegel, da ich eher generell unsicher und unzufrieden mit mir war - ich denke, das ist für das Alter typisch.
Das erste Röntgenbild bringt die für mich bis dato absolut unbekannte und erschreckende Diagnose: Skoliose mit einer ca. 34° großen, linkskonvexen Krümmung im Lendenwirbelbereich. Ab da brechen Termine zur vorbeugenden Physiotherapie und zur Erstellung eines Stützkorsetts über mich hinein.
Da meine kleine Schwester, 3 Jahr jünger, ebenfalls eine, glücklicherweise deutlich geringere und bis heute auch keine Probleme machende, Verkrümmung hat, wird sie mit mir teils zeitgleich in die Physiotherapie gesteckt, zur Vorsorge. Ich bin froh darum, da das Ganze sehr ungewohnt ist und die Rolle der großen Schwester gibt mir etwas Selbstvertrauen. Ich habe nun also 2 mal die Woche nach der Schule Physiotherapie. Da ich ansonsten sehr sportfaul bin, macht das für mich einen großen Unterschied aus. Weil die Physiotherapeutin sehr nett ist, ist es trotz der sehr anstrengenden Übungen sehr erträglich.
Das für mich angefertigte orthopädische Stützkorsett, viele werden es kennen, ist für mich das Sinnbild eines Foltergeräts. Da meine Verkrümmung recht lang ist und meine Schultern schiefstehen lässt, reicht es von der Hüfte bis hin über die Schulter. Es zu tragen verursacht bei mir Hitzewallungen, das Gefühl eingesperrt zu sein und schreckliche Schmerzen. Da man es mehr als deutlich durch jede erdenkliche Kleidung durchsieht (in den frühen 2000ern trug man leider keine oversized Shirts, eventuell wären diese meine Rettung gewesen), und ich in meinen jungen Teenagerjahren gut ankommen und mein Leben genießen wollte, trug ich es mehr als selten. Ich glaube, dass es bei einigen wirklich hilft, bin aber überzeugt, dass es bei mir schon zu spät gewesen wäre.
Ich erinnere mich noch an eine Zugfahrt in den Urlaub im folgenden Jahr, während der meine Eltern ihrer weinenden Tochter das Korsett auf der engen Zugtoilette entledigen durften.
Ich erzähle es ein paar Freundinnen aus der Schule, die sehr viel Verständnis und Neugier zeigen, ansonsten halte ich mich aber damit sehr zurück. Da ich sehr groß bin, scheint es niemandem aufzufallen.
Karlsfeld/Dachau, nähe München, rund 10 Jahre später. Nach meinem Umzug nach Bayern habe ich erstmal niemand von meinen neuen Freunden viel über meinen Rücken erzählt, mit einigen wenigen eng vertrauten Ausnahmen. Man möchte als Teenager ja, wenn man eh schon die Neue ist, sich nicht noch mit “so etwas” angreifbar machen. Teenager können gemein sein. Es scheint tatsächlich niemand zu sehen, einmal fragt eine Bekannte am See nach, ob mir mein Rücken wehtut, weil sie die Krümmung sieht, sonst nichts. Ich selber sehe es hingehen mehr als genug. Mein Rücken schmerzt bei längerer sportlicher Bewegung, beim Wandern, beim Snowboarden, beim Frieren, da sich dabei die Muskeln anspannen. Ich habe in den letzten Jahren sehr oft verspannte Schultern und nun auch noch eine Migräne mit Aura entwickelt, die u.a. von den Verspannungen herrühren kann. Ich verzichte auf zu enge Kleidung, da ich meinen “Knick” in der Seite nicht ästhetisch finde, damit kann ich es gut kaschieren. Ich laufe leicht schief, das fällt ein paar Freunden auf, die sich aber, nachdem ich mich erklärt habe, sehr unterstützend zeigen.
Meine Skoliose wird 2-jährlich geröntgt. Ich habe ab sofort immer mal wieder Physiotherapie, wenn es wieder zu sehr verspannt und schmerzt. Außerdem habe ich mich sporadisch in Fitnessstudios angemeldet und beginne, ab 2011 tatsächlich bis heute regelmäßig Pilates, Yoga und weitere Bauch- und Rückenmuskulatur stärkende Sportarten durchzuziehen, auch wenn ich nicht die Disziplin meiner kleiner Schwester besitze, die fleißig fast täglich Übungen macht. Ich schwimme immer wieder, lerne Skifahren und gehe später auch Bouldern, meine Einschränkungen halten sich also in Grenzen, ich würde aber sagen, dass ich mich oft schwerer tue als andere und natürlich den Seitenunterschied bemerke.
Mein Allgemein-Arzt rät mir von hohen Schuhen ab und erklärt mir, wie ich am besten in Babyposition schlafen soll - nicht sonderlich hilfreich. Mein Orthopäde in Dachau hingegen, ist sehr gut auf diesem Gebiet und erklärt mir, dass er Verbindungen zur Schön-Klinik in Vogtareuth hat und gern dort einen Untersuchungstermin vereinbart. Dass aber eine OP unter 60° Verkrümmung ohne weitergehende Einschränkungen, und die habe ich nicht, nicht in Frage kommt. Meine Verkrümmung beträgt nun rund 45°. Deshalb behalte ich mir die OP im Hinterkopf, wünsche sie mir aber im Prinzip schon seitdem ich 13 bin, meine Devise lautet “viel hilft viel”. Nichtsdestotrotz freunde ich mich mit dem Gedanken an, abzuwarten bis sich die Skoliose dann rechnerisch mit 40 so sehr verschlechtert hat, dass ich eine OP brauche. Bis dahin sollte ich Kinder haben, die sich bereits selber versorgen können

2018. Seit ein paar Monaten tut meine rechte Hüfte immer wieder weh, sie sticht. Die Physiotherapeuten versuchen alles, denken es ist das ISG, mein Ortophäde spritzt mir Cortison, aber nichts hilft, auch die Osteopathin weiß Ansätze aber keine nachhaltige Hilfe. Mittlerweile ist es so, dass ich nach Fußballspielen oder Konzerten, also nach langem Stehen, mächtige Schmerzen im Lendenbereich habe. Wir besuchen eine Trampolinhalle und einmal sind wir Schlittschuhlaufen - danach muss ich mich am Folgetag auf dem 10-minütigen Fußweg zur Arbeit jeweils mehrfach zwischendurch hinsetzen. Nachdem ich nach München umgezogen bin, suche ich einen neuen Orthopäden auf, dieser lässt mich neu röntgen. Die Diagnose scheint für mich unglaublich: 63° Verkrümmung. Das sind fast 15 ° mehr als vor einem Jahr. Scheinbar drückt sich durch die Krümmung eine Bandscheibe leicht raus, was die Hüftschmerzen erklärt. Ich bin perplex, versuche mit meinem Freund selbst den Cobb Winkel auszurechnen, komme auf 53° und hole mir bei der Schönklinik in München einen Termin zum Gegenröntgen. Es bringt dasselbe Ergebnis wie beim ersten Arzt, sogar etwas mehr - ca. 66°.
Ich weiß noch, wie ich aus dem ersten Gespräch von dort komme, und meiner Schwester eine Whatsapp schreibe, dass ich wahrscheinlich eine OP brauche. Ihre Antwort reflektiert perfekt auch mein rationales Gefühl gegenüber dieser Situation: “Klar, das machst Du.”.
In den folgenden Wochen bin ich nochmal zum Röntgen und dort und darf meine Mama und meinen Freund mit zum Vorgespräch nehmen, auch mit 29 braucht man schließlich emotionale Unterstützung.
Wir werden all unsere Fragen los: Wie verläuft die OP, was muss ich vorher beachten, was kommt danach auf mich zu, wie sieht es danach mit Sport aus, mit Tragen von schweren Sachen, mit dem Sexualleben, mit dem Kinderkriegen, mit weiteren ärztlichen Eingriffen, mit dem Fliegen, … Interessant für alle Mädchen und jungen Frauen: Mein Plan mit 40 wäre niemals aufgegangen: Wenn man schwanger wird, weicht das Gewebe rund um das Becken auf, um dem Kind Platz zu geben. Dadurch verstärken sich Skoliosen in der Regel. Eine problemlose Schwangerschaft und Geburt sind dann selten.
Ich richte mich darauf ein, dass mein Termin frühestens in ca. 6-8 Wochen sein wird, da das die normale Wartezeit ist. Da ich für das Jahr bereits zwei Reisen und mehrere Hochzeitsbesuche eingeplant habe, ginge es für mich naiverweise entweder sofort oder im Winter. Während eines Kundentermins kommt ein Telefonat aus der Klinik: Ende März 2019 ist ein Termin frei geworden, ob ich diesen haben möchte. Wir schreiben den 19. Februar, ich stehe im Gang neben dem Konferenzraum des Kunden und habe Tränen in den Augen. Ich sage direkt zu.
Ab da trinke ich bis zum OP-Termin keinen Alkohol mehr, um den Körper zu schonen und mache aber alles nochmal, was ich liebe. Wir feiern Geburtstage im Freundes- und Familienkreis, ich gehe mit meinen Freundinnen zum Fasching und am Tag vor dem Krankenhaus-Checkin gehe ich noch zum Heimspiel des TSV 1860 München und verabschiede mich von meinen Freunden.
Was ich unbedingt erwähnen möchte: Ich habe mir sehr lange Gedanken über eine Patientenverfügung gemacht, da ich das erste Mal in meinem Leben vor einem Krankenhausaufenthalt, vor einer Narkose und einer OP stand und man ja nie weiß. Auch wenn es nachträglich etwas übertrieben erscheint, habe ich sie erstellt und bei den Ärzten abgegeben. Entscheidungen wie lebenserhaltende Maßnahmen und was mit meinen Organen passiert, wollte ich meiner Familie nicht zumuten, daher finde ich die Entscheidung nach wie vor richtig und wichtig.
Am Check-in Tag ist schönes Wetter. Die Nichten meines Freundes haben mir mit ihrer Mama einen großen Schokoladenkuchen gebacken. Mein Freund fährt mich mit zwei großen Taschen voller Jogginghosen und gemütlichen Shirts in die Klinik, 14 Tage Aufenthalt sind geplant. Ich komme in ein Zweibettzimmer mit einer netten Frau, die bereits eine Bandscheiben-OP hinter sich hat. Ich durchwandere nochmal die Anästhesie-Besprechung inkl. Urinprobe und Blutabnehmen, Patientenbögen, das Röntgen und das MRT, alles steht für den nächsten Tag. Ich gehe noch eine Runde spazieren und gebe meinen Freund als Notfallkontakt an. Vor dem Einschlafen gibt es eine Schlaftablette, um 6 Uhr soll es losgehen.
25. März 2019: Ich werde sanft geweckt und gebeten, mich frisch zu machen und in mein OP-Dress zu werfen. Bevor man mich abholen kommt, schreibe ich nochmal meinen Liebsten und lenke mich mit einer Folge Modern Family auf dem iPad ab. Man gibt mir eine kleine Beruhigungsspritze, das ist normal, und schiebt mich mit dem Bett in den Anästhesie-Raum. Dort bekomme ich eine warme Decke und die Haupt-Spritze und als der nette Anästhesist noch sagt, jetzt würde mir gleich warm, bin ich bereits weg.
Als ich aufwache, sehe ich meine Mama an meinem Bett stehen. Sie hat mir Blumen mitgebracht und ist sehr erleichtert. Meine Schwester und mein Freund kommen hinzu. Ich erzähle, wie es mir bisher ging, nicke aber zwischendurch immer wieder mal halb weg, nach der Narkose bin ich sehr k.o. Die Uhrzeit erscheint mir zu früh. Was ich erfahre, ist, dass meine OP deutlich weniger lang gedauert hat, als gedacht: nur 3 statt fast 6 Stunden. Ständig wird geprüft, ob ich meine Zehen bewegen kann und wie ich mich fühle. Alles in Ordnung, nur meinen Rücken spüre ich nicht.
Das ändert sich schon in der ersten Nacht. Ich bekomme kaum ein Auge zu, da die Schmerzen stark zunehmen. Immer wieder drücke ich den Notfallknopf und rufe die Nachtschwestern mit der Bitte um mehr Schmerzmittel. Ich liege vorsorglich die ersten 3 Nächte auf der Intensivstation und werde rundum versorgt.
Ein paar neue interessante Fakten, die ich dort lerne und die einem vorher niemand sagt:
Die Schwestern sehen auf ihrem Computer, wenn man einen Migräneanfall bekommt.
Wenn man als Frau operiert wird, bekommt man meistens seine Periode, auch wenn sie nicht angestanden wäre.
Wenn man ein paar Tage nicht isst, weil man nichts herunter bekommt, bekommt man einen unfassbar schmerzhaften Blähbauch.
Makeup, BH, Selbstwertgefühl, forget it.
Schmerzmittel machen einen sehr sentimental.
Am Morgen des Tages nach der OP erwischt mich mein OP-Arzt endlich im wachen Zustand. Er sagt, dass die OP wunderbar verlaufen ist, meine Wirbelsäule sehr gut mitgespielt hat und ich nun nahezu 0° Skoliose, als null Skoliose mehr habe. Ich weine vor Freude und Dankbarkeit.
Grundsätzlich ist der Plan, Patienten so schnell es geht aufzusetzen und zum Gehen zu bringen. Das dauert bei mir etwas länger als geplant. Ich habe von der Lagerung während der OP den bisher größten Schultermuskelkater meines Lebens, mein Rücken schmerzt und mein Kreislauf macht nicht mit. Ich habe nebenbei bemerkt auch große Druckstellen an den Beinen. Erst heißt es, ich solle weniger nach Schmerzmitteln fragen, da diese natürlich nicht gesund sind, als ich mich zusammenreiße und die Heldin spiele, werden die Schmerzen unerträglich und ich lerne zum ersten Mal, was es heißt, ein Schmerzgedächtnis zu haben. Ich bin die meiste Zeit allein im Zimmer, aber ständig von Arztvisiten und Pflegern umgeben. Pflasterwechsel sind der Horror, da ich mich auf die Seite drehen muss und ich habe einen Blasenkatheter, der sehr anstrengend ist. Zudem muss ich bei jeder Bewegung darauf achten, mir weder meinen Wundkatheter, noch meinen Pulsmesser am Finger oder meine Sauerstoffschläuche und vor allem meinen Zentralvenenkatheter, den ich am Hals angenäht bekommen habe, rauszureißen.
Am dritten Tag nach der OP setze ich mich vormittags das erste Mal auf - bis mir schwarz vor Augen wird, aber mein Kampfgeist ist wieder da. Am frühen Abend schafft es der junge, große Pfleger mich aus dem Bett hochzuziehen und mich an meinen Rollator zu stellen. Ab da geht es relativ zügig und vom Weg durch das Zimmer, schaffe ich einen Spaziergang zum Gangfenster.
Am 4. Tag verlegt man mich auf die normale Station, wieder in mein Zweibettzimmer. Mein Blasenkatheter ist raus, das heißt ab sofort muss ich mich zusammenreißen und mindestens für die Toilette aufstehen. Ich bekomme das berühmte Opium oder Morphium (nicht mehr sicher, ich schreibe weiter Opium) zum Spritzen auf Knopfdruck.
Am 5. oder 6. Tag darf ich, nachdem der Wundkatheter entfernt wurde, endlich duschen gehen, im Sitzen, mit Hilfe der Schwester. Aber es ist das beste Mal Duschen meines Lebens.
Tagsüber sind die Schmerzen erträglich und ich habe nette, wechselnde Zimmernachbarinnen und täglichen Besuch von meinen Eltern, meinem Freund und meiner Schwester, die es schaffen, sich neben der Arbeit abwechselnd auf den doch einstündigen Umweg zu machen, um mir Gesellschaft zu leisten, während ich den Tränen nahe im Bett liege, mit mir zusammen einzunicken, mit mir die ersten Spaziergänge über den Gang zu machen. Ich bin stolz, weil sie sich freuen, wie es mir besser geht.
Vor allem in den ersten Nächten auf dem normalen Zimmer habe ich nach wie vor sehr starke Schmerzen in der Nacht, habe Albträume, wache einmal sogar auf einem durchgebluteten Laken auf und nutze eher zu viel Opium. Die Spritze hat einen Zähler: an einem Tag nehme ich 53 Dosen. Dieser Fakt und der Moment, als ich mich nach dem Nachtisch erneut auf meine frische Bettwäsche übergeben muss, öffnen mir die Augen: Das Opium muss weg. Lieber wandere ich ab sofort nächtlich bis zu 5x den Gang auf und ab - in guter Gesellschaft anderer Patienten - denn Gehen lockert die Rückenmuskulatur.
Auf der Station hat man einen recht gut durchgetakteten Tagesablauf, den ich auch erstmal lange lernen musste: Blutabnehmen, Tabletten nehmen, frisch machen, Frühstück, auf die Arztvisite warten, Duschen, Gespräch mit der Physiotherapie, eventuell spazieren gehen, Mittag, Tabletten, Whatsapp- und Instagram Chats mit Freunden, Shoppingqueen, schlafen, Pfleger kommen um Werte abzunehmen, spazieren, Besuch, Abendessen um 17 Uhr und danach wird der Abend sehr lang. Aber ich habe gute Unterhaltungen mit meinen Zimmerkolleginnen, mein iPad für Netflix und Co und ein gutes Buch. Die Spaziergänge bei schönem Frühlingswetter im Hof der Schön Klinik, die auch an ein Internat und eine Schule für behinderte Kinder angrenzt, und meine Lieblingsmusik bauen mich sehr auf.
Von Tag zu Tag werde ich fitter und schaffe es sogar, bis zum 1860 Trainingsgelände zu spazieren, um die Mannschaft zu sehen und beim Italiener dort mit meinen Eltern zu essen (absolute Empfehlung!). Ich habe große Hoffnungen, bald nach Hause zu können.
Es kommen auf den Rest der Wunde immer weniger Pflaster und ich sehe Teile meiner Narbe. Sie ist noch sehr geschwollen und verkrustet und ich bin noch etwas aufgedunsen und fühle mich einen Meter größer als vorher, da ich auf einmal aufrechter und gerade steher. Meine Venenzugänge sind bald aufgebraucht. Vom vielen Schmerzmittel, Antibiotikum und Blutabnahmen finden die Schwestern kaum noch brauchbare Venen. An einem Tag schwillt meine linke Hand sogar Tennisball-groß an, weil sich Flüssigkeit nicht in der Vene sondern im Gewerbe sammelt. Und noch schlimmer: leider verheilt meine Narbe am Wundpol ganz unten nicht. Sie blutet immer und immer wieder nach. Mal kommt anderthalb Tage kein Tropfen Blut und dann wieder ein ganzer Schwall. Ich bin todtraurig und ungeduldig und habe das erste Mal seit Ewigkeiten Heimweh und bin ein Häuflein Elend.
Am 19. Tag darf ich unter Vorbehalt nach Hause, auch wenn die Wunde noch kritisch beäugt wird. Der Vater meines Freundes ist so lieb und holt mich ab, die erste Nacht schlafe ich bei meinen Eltern, da mein Freund auf Dienstreise ist. Auf dem Weg zur Tür herein, treffe ich per Zufall noch eine sehr gute Freundin. Endlich zuhause! Meine Eltern kümmern sich toll um mich und am nächsten Tag holt mein Freund mich ab und in unsere Wohnung. Ich bekomme Blumen und gutes Essen und bin sehr glücklich.
Der Plan jetzt lautet: Erholen, Bingewatching, Playstation spielen und nach 3-4 Wochen arbeiten gehen. Nicht so mit meinem werten Körper

Ich habe nach wie vor starke Schmerzen im unteren Rücken und nehme täglich Schmerzmittel und Antibiotika. Mir gelingen weitere Spaziergänge und sogar ein Friseurbesuch. Mehrmals die Woche muss ich zum Allgemeinarzt zum Pflasterwechsel und zur Blutabnahme. Letztere ist vor allem wichtig, um die Entzündungswerte zu kontrollieren. Dieses werden tendenziell immer besser. Familienessen gehen schon, Ostern bei meiner Schwester und Besuche und Geschenke von Kolleginnen und Freunden. Aber die Wunde wird nicht besser, es fühlt sich an, als hätte ich ein Lineal im Rücken.
Als mein Freund mir am 25.4. das Pflaster nochmal wechseln möchte, sieht er, dass die Wunde sehr geschwollen ist. Ich bin mit den Nerven am Ende. Am nächsten Morgen fahren wir in die Notaufnahme, zum Glück ist nicht Wochenende, sonst müsste ich länger warten. So geht aber alles recht schnell: Dem Arzt, der mein Pflaster abzieht, rutscht nur ein “oh krass” raus. Alles von vorne: Blutabnehmen, Patientenbögen, Röntgen, MRT, Zimmer beziehen, umziehen, Narkose. Als ich aufwache, liege ich im normalen Aufwachzimmer. Um mich rum sind Familien und viele Pfleger. Ich nicke immer wieder weg, bekomme aber mit, dass alles gut gelaufen ist und der Abszess, der sich unter der Narbe gebildet hat und fast bis zum Knochen reichte, erfolgreich entfernt ist.
Ich habe Glück, das Zimmer am Wochenende für mich allein zu haben. Die Ärzte sagen, Druck verschließt die Wunde, also entscheide ich mich für Game of Thrones Bingewatching - damals kommt die letzte Staffel - und viel rumliegen. Das Wetter ist ohnehin mies und ich hänge am Tropf und am Wundkatheter. Die Wunde verheilt diesmal gut, jetzt habe ich so eine typische Näh-Naht um den unteren Teil meiner Narbe. Die Pfleger und Pflegerinnen sind wie beim ersten Mal wirklich großartig und hilfsbereit und ideenreich und auch meine Ärzte geben sich die größte Mühe, mich aufzumuntern. Trotzdem will ich nach Hause, denn der Geburtstag meines Freundes steht an. Als Sonderausnahme darf ich am Abend des Freitags meine letzte Dosis Antibiotika haben und nach Hause.
Ab diesem Zeitpunkt geht die Heilung viel besser voran und die Schmerzen sind minimal. Ich kläre eine Wiedereingliederungsmaßnahme mit meiner Ärztin ab und kann 3 oder 4 Wochen später wieder erst 4, dann 6 Stunden und bald wieder Vollzeit in die Arbeit zurückkehren.
Ich kann dann sehr schnell auch wieder zum Weinfest, zur ersten Hochzeit, und im Sommer auch relativ problemfrei in den wohlverdienten Urlaub nach Sardinien und schaffe es sogar immer sicherer zu schwimmen.
Am Anfang nach der OP war ich körperlich sehr eingeschränkt: Alle Kleidungsstücke unterhalb der Hüfte, vor allem Socken, waren schon eine Herausforderung, und ohne Schuhanzieher ging nichts. Beine rasieren und Fußnägel lackieren? Fehlanzeige! Dafür habe ich mir Pediküre Termine gegönnt.
Schlafen ging lange nur auf dem Rücken und nicht zu nah an meinem Freund, da jede seiner Bewegungen die Matratze bewegt und bei mir Muskelkrämpfe rechts der Wirbelsäule ausgelöst hat. Das ist so, weil diese Seite vorher stark verkürzt war und sich erst an die neue Lage gewöhnen musste.
Fahrradfahren ging beispielsweise auch lang nicht und in Autos muss ich den Sitz schräger stellen als andere, da ich mir sonst vorkomme, als würde ich beim Sitzen vorne überkippen.
In den Öffentlichen habe ich versucht, möglichst immer so zu stehen, dass ich nicht von hinten angestoßen werde. Statt Handtaschen trug ich nur noch Rucksack. Im Sommer fiel das lässige Daliegen am Badesee oder im Freibad schon mehr als schwer. Für die Narbe habe ich extra immer 50er UV-Schutz drauf gehabt plus Badeanzug, der sie bedeckt, damit sie nicht dunkel wird und sie sonst stets gut eingeschmiert.
Es ist ein bisschen wie bei Kleinkindern: die ersten Schritte, das erste mal Fahrradfahren, das erste mal Schwimmen… Man wird von Woche zu Woche mobiler und mittlerweile das tolle Ergebnis: Die Nachuntersuchungen sahen alle top aus. Ich habe nur selten Schmerzen, was u.a. aber auch vom vielen Sitzen kommt. Sportübungen helfen und die Physiotherapie, die ich bis April hatte. Seit letztem Jahr im Herbst bin ich regelmäßig Schwimmen gegangen, dann kurz zum Pilates. Dann kam Corona und seitdem mache ich täglich 20 Minuten Sport mit einer App, das hilft super und ich werde immer besser, schaffe immer mehr der Übungen und halte länger durch. Nichts krampft mehr und es ist nicht schlimm, wenn jemand meinen Rücken anfässt.
Die Narbe sieht man aber sie ist ein Teil von mir und ich trage sie mit Stolz. Ich freue mich über die vielen neuen Kleider, die ich nun tragen kann, ohne, dass meine schiefe Hüfte oder mein Knick mich stören.
Ich kann stundenlang zu Fuß gehen, ins Fußballstadion gehen und dort über die Balustrade klettern, ich kann längere Radlausflüge machen, und denke bei Bewegungen nicht mehr viel nach. Für mich ist das wie ein neues Leben und ich bin unfassbar dankbar! Ich kann mich glücklich schätzen, in einem privilegierten Land zu leben, dass so ein tolles medizinisches Personal ausbildet und per gesetzlicher Krankenkasse solche Operationen bezahlt. Und, dass ich so einen großen Unterstützungskreis habe. Ich hoffe, mit meiner Erzählung anderen Betroffenen Mut machen zu können. Es ist nicht leicht aber der Kampf lohnt sich! Und Ihr seid stark!
Sommer 2020. Dieses Jahr geht es, wenn wegen dem Virus alles gut geht, wieder an die Ostsee, diesmal wieder mit geradem Rücken und darauf freue ich mich schon lange wie ein kleines Kind!