Besser als prognostiziert

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Breva
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Diagnose: Z.n. kindlichem M. Scheuermann,
ideopath. Thorakalskoliose
Therapie: konservativ ambulant u. stationär,
morgens täglich 45 - 60 Minuten Gymnastik

Besser als prognostiziert

Beitrag von Breva »

Als Kind musste ich in den 60er Jahren regelmäßig bei der Behindertenfürsorge antreten, wo sich stets das gleiche abspielte: Der Arzt zählte alle Deformationen meiner Wirbelsäule auf, sagte, dass ich Morbus Scheuermann und eine Skoliose habe, als Erwachsener höchstens halbtags leichte Arbeiten durchführen könnte, spätestens mit 40 Frührentner sei und wenn ich nicht umgehend Krankengymnastik mache, bald wie der Glöckner von Notre-Dame aussehen würde. Auch von einem Korsett wurde immer wieder gesprochen. Doch meine alleinerziehende Mutter verweigerte ihr Einverständnis zu diesen Behandlungen. Zuhause saß ich zum Essen auf einem Holzhocker, sollte gerade sitzen. Zwei bis Drei Löffel ging dies mit viel Mühe, dann sackte ich wieder zusammen und es gab Schläge mit dem hölzernen Kochlöffel. Die Lehrer wollten mich auf die Sonderschule schicken, was abermals am Nein meiner Mutter scheiterte.
Irgendwann machten Jugendamt und Behindertenfürsorge so viel Druck, dass meine Mutter zumindest damit einverstanden war, dass ich wenigstens einmal wöchentlich zum „orthopädischem Schwimmen“ gehen durfte. Man bekam in der Eingangshalle eine Eintrittskarte mit dem Stempel „Behindertenfürsorge“. Das irritierte mich: war ich behindert? Doch ich traute mich nicht zu fragen. Ich gehörte zur letzten „Therapiegruppe“. Immer wenn wir die Schwimmhalle betraten, räumten die Therapeuten das Therapiematerial weg und verließen die Halle. Es blieb ein meist deutlich alkoholisierter Bademeister, der uns befahl eine halbe Stunde irgendwie im kalten Schwimmerbecken über Wasser zu bleiben. Aber die Erwachsenen waren nun alle beruhigt, denn ich sei ja jetzt irgendwie therapeutisch versorgt.
Das Thema Behinderung hat bei uns Familientradition: von den sieben Geschwistern meiner Mutter waren drei Behindert und überlebten die damaligen NS-Zeit nicht. Nicht nur bei uns ist so etwas noch heute ein familiäres Tabuthema – leider. Das erklärt vielleicht einiges, entschuldigt jedoch nicht alles.
Zum Glück wurde ich Erwachsen, nahm mein Leben selbst in die Hand und ging zum Orthopäden. Der blickte in Wechsel zu meinem Rücken und zum Röntgenbild und meinte: sie brauchen umgehend Krankengymnastik. Gesagt getan landete ich bei seiner angestellten Therapeutin. Die sah mich an und meinte: Der Chef spinnt, erst machen sie nichts und dann soll ich kurz vor Feierabend loslegen. Sie hätten mal vor 10 Jahren kommen sollen, jetzt ist das sinnlos. Und dann ging sie. Nach einer viertel Stunde erschien sie wieder und meinte kurz: sie sind ja immer noch da?! Im weiteren Verlauf lernte ich einige andere Ärzte und Therapeuten kennen.
Als junger Mensch hatte ich ein sehr schlechtes Verhältnis zu meinem eigenen Körper, den ich meist als Last empfand und dies im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Oft fühlte ich mich nicht verstanden, weil eben keiner verstand, warum mir vieles so schwer fiel, ich so leicht erschöpfte; ich verstand es ja eigentlich selbst nicht und war so durch Vorwürfe leicht irrtierbar und verletzlich.
Mit Mitte 20 habe ich dann meine Frau kennen gelernt, mit der ich noch heute zusammen lebe und zwei Kinder habe.
Im Alter von ca. 20 - 40 hatte ich eher akute Probleme in der LWS und mit dem ISG. Gymnastische Übungen machte ich immer dann, wenn Schmerzen mich an meinen Rücken erinnerten, sonst achtete ich über den Tag darauf, meine Körperhaltung zu korrigieren. Als Familienvater war mir in diesen Jahren vieles wichtiger, als mein Rücken. Schließlich wechselte die Problemzone nach oben und machten sich mit einer heftigen Zervikobrachialgie wiederkehrend bemerkbar. Diagnosen: mehrsegmentale Spinalkanalstenosen HWK 3/4 bis 6/7, Neuroforamenstenose etc.
Inzwischen bin ich Mitte 50. Ich mache jeden Morgen 45 – 60 Minuten Gymnastik. Früher waren die Übungen für mich eher ein lästiges Pflichtprogramm, zu dem man sich irgendwie überwinden musste. Heute bewege ich mich gerne. Das bessere Körpergefühl im Verlauf der morgendlichen Gymnastik wirkt wie eine Belohnung und motiviert zum früheren Aufstehen. Motivation ist nun das hier und heute, das bessere Körpergefühl und nicht wie früher irgendein Fernziel.
Rückblickend glaube ich fest, dass für mich die Entwicklung einer eigenen, starken Persönlichkeit für die Bewältigung der krankheitsbedingten Probleme zumindest genauso wichtig war, wie körperbezogene Therapien.
Entgegen aller früheren Prognosen bin ich durchweg vollzeitig berufstätig und mit dem Glöckner von Notre-Dame besteht keine Ähnlichkeit. Heute zickt mein ISG herum, die LWS ist eine Diva und natürlich macht mir die HWS mit ihren heftigen Attacken manchmal Angst. Insgesamt geht es mir trotz allem viel besser, als in der Kindheit prognostiziert; das freut ich mich fast jeden Tag.
Soan
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Re: Besser als prognostiziert

Beitrag von Soan »

Hey Brava,

ich fand es sehr interessant die Geschichte von jemanden zu lesen, der mit der Krankheit seit Jahrzehnten kämpft. Danke dafür!

Du hattest aber ziemlich viel Glück, dass sich die Skoliose nicht extrem verschlechtert hat, oder? Mich freut auf jeden Fall zu lesen, dass du mehr oder weniger gut zurecht kommst und vor allem vollzeit arbeiten kannst!

LG Soan
Sängerin52
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Diagnose: mein 16 jähriger Sohn hat eine Skoliose (am Ende fast 90° in der BWS, 70° in der LWS) und ist jetzt seit dem 23.3.17 operiert und hat jetzt 54° thorakal und 30° lumbal
Therapie: wir hatten ein Korsett von CCTec, haben Spiraldynamik, Vojta, Osteopathie, Schroth gemacht und machen mit Spiraldynamik auch nach der OP weiter
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Re: Besser als prognostiziert

Beitrag von Sängerin52 »

Lieber Breva,

danke für deinen ausführlichen Bericht. Er hat mich sehr berührt

Und es ist schön zu lesen, dass trotz dieser Prognose dein Leben ganz anders verlaufen ist und es so viel positiver ist als prognostiziert.
Und diese gruselige, nicht sehr kompetente und menschlich einfach unterirdische Behandlung, die man teils erfahren hat kenne ich noch aus eigener Erfahrung. Mit meiner Skoliose habe ich auch ständig zu hören bekommen, dass ich mich mit spätestens 30 nicht mehr werde ohne Schmerzen bewegen können und ich solle jetzt gefälligst meine Gymnastik machen. Die machte mir aber nur mehr Schmerzen und die Therapeutin sagte immer, es sei ja auch kein Wunder, ich hätte ja auch keine Rückenmuskulatur. Das änderte sich komischerweise nie, egal was ich für Sport machte
Und heute, einige Alternativtherapien später geht es meinem Rücken so gut wie nie. Die Skoliose sieht man nur in Ausnahmefällen und man spricht allgemein lächelnd von einem Skoliöschen, wenn ich irgendwo sage, dass ich eine schwere Skoliose mit Gipsbett und allem Täterätä hatte.
Ich bin nur in diesem Forum wegen meines Sohnes, der wirklich eine schwere Skoliose hat, der aber glücklicherweise nach anfänglicher nicht so guter Behandlung gute Ärzte und Therapeuten mit unseren Hilfe finden konnte

Eine kleine Frage habe ich, auch wenn du das vielleicht ohnehin weißt. Lässt du deine Kinder genau auf Skoliose untersuchen? Skoliose kann ja vererblich sein, wie ich bei meinem Sohn leider feststellen musste, obwohl Jungs ja viel seltener betroffen sind als Mädchen. Aber wenn ich dein Alter richtig einschätze sind die Kinder wahrscheinlich schon aus der kritischen Phase heraus ;-)

Ich wünsche dir weiterhin alles Gute für dich, deine Familie und deinen Rücken und dass du gute Hinweise aus diesem Forum ziehen kannst, wenn es mal nicht so gut läuft mit dem Rücken

einen schönen Tag,
Sängerin
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Klaus
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Re: Besser als prognostiziert

Beitrag von Klaus »

Hallo Breva,

ich kann Deine Geschichte gut nachvollziehen.
Aus der Erfahrung des Forums heraus, wäre ich an Deiner Stelle aber neugierig, was heute alles möglich ist bzw. (das ist noch viel wichtiger), was alles auch in Deinem Alter noch konservativ möglich sein kann!

Dazu gehört natürlich eine kompetente und konkrete Diagnose, ohne die es keine optimalen Behandlungsmöglichkeiten gibt. Also möglicherweise nach dem Motto "sehr viel besser als prognostiziert" ;)

Die Skoliose muss in der Art und mit Gradzahlen angegeben werden.
Der Morbus Scheuermann ist in Deiner Kindheit nur ein Auslöser für eine Fehlstellung der Wirbelsäule gewesen. Typisch sind Rundrücken (Hyperkyphose) und Hohlkreuz (Hyperlordose), die mit entsprechenden Gradzahlen angegeben werden sollten. Dabei kann es eine relativ geringe begleitende Skoliose unter 20 Grad geben, die in dieser Kombination aber nicht das Hauptproblem darstellen könnte. Diese Situation findet man bei Männern häufiger, als bei Frauen. Nicht nur eine Skoliose sollte behandelt werden, sondern auch eine Hyperkyphose/Hyperlordose. Das ist leider zu wenig im Fokus.

Der Rücken muss auch durch entsprechende Untersuchungen auf Flexibilität untersucht werden, um dann insgesamt auf eine bestimmte Einschätzung zu kommen. Dabei bist Du mit einem Spezialisten am besten bedient:
viewtopic.php?f=25&t=6472

Gruß
Klaus
Breva
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Re: Besser als prognostiziert

Beitrag von Breva »

Liebe Sängerin,
wie Du richtig geschätzt hast, sind meine Kinder bereits selbst Erwachsen. Zum Glück haben beide einen gesunden Rücken.
Übrigens finde ich es super, wie Du mit deinem Sohn die Behandlung angehst und wünsche Euch beiden, dass alles weiterhin positiv verläuft.

Lieber Klaus,
vielen Dank für deine Anregungen. Ein "Sehr viel besser als prognostiziert" fände ich natürlich auch super . Wie Du geschrieben hast, gibt's dazu hier etliche Infos und ich werde mir überlegen, was für mich umsetzbar ist.

Herzliche Grüße
Breva
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Klaus
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Re: Besser als prognostiziert

Beitrag von Klaus »

Hallo Breva,
Wie Du geschrieben hast, gibt's dazu hier etliche Infos und ich werde mir überlegen, was für mich umsetzbar ist.
Na ja, es ist in diesem Forum schon ungewöhnlich, wenn jemand einfach nur seine Geschichte erzählt.
Ohne dass er Fragen zu einer möglichen besseren Therapie hat. Und für mich ist auch nicht ganz klar, welchen Tipp (das ist u.a. ein Hauptanliegen des Forums) man für andere daraus ableiten könnte.
Ich mache jeden Morgen 45 – 60 Minuten Gymnastik. ......Das bessere Körpergefühl im Verlauf der morgendlichen Gymnastik wirkt wie eine Belohnung und motiviert zum früheren Aufstehen. Motivation ist nun das hier und heute, das bessere Körpergefühl und nicht wie früher irgendein Fernziel.
Wie man eine langfristige Motivation erreicht, ist zwar ganz wichtig, aber "Gymnastik" doch zu allgemein und "ein besseres Körpergefühl" wäre eigentlich auch näher zu erläutern. Gerade bei einer unklaren Diagnose, die als erstes in der kompetenten Klärung umzusetzen wäre.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Fehlstellungen sehr tückisch sein können, wenn Schmerzen bzw. Beschwerden nicht ausreichend mahnen, dass man etwas falsch macht. Mein Fitness Training hat lange Zeit vieles überdeckt und deutlich fühlbare Beschwerden kamen erst, nachdem sich die Situation der Wirbelsäule immer weiter verschlechtert hatte.

Gruß
Klaus
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